Wie eng der persönliche Blick doch allzu leicht werden kann, hat die Beschäftigung mit diesem neuen Vollverstärker nachdrücklich in Erinnerung gebracht. In der Blütezeit des HiFi aufgewachsen, seitens preiswürdiger Amps vom Nimbus der damaligen Protagonisten britischer Provenienz umweht, wäre mir rückblickend Rotel als gewichtiger Name aus jener Zeit ehrlich gestanden zuletzt eingefallen. Alldieweil mein persönliches Radar sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre immer mehr auf High-End-Gefilde ausgerichtet hat, war Rotel bis vor Kurzem nicht mehr auf dem Schirm. Das dürfte allerdings nicht nur mir so gegangen sein, denn die Traditionsmarke stand lange Zeit eher abseits des öffentlichkeitswirksamen Geschehens, obgleich sie weiterhin unter den Rahmenbedingungen der bereits 1981 eingegangenen Partnerschaft mit Bowers & Wilkins tätig war, aus der im Jahr 2000 auch die Gründung von Rotel Europe mit Sitz im englischen Sussex resultierte. Dieses strategische Bündnis mündete 2006 in einem Joint Venture die im chinesischen Zhuhai angesiedelte Fertigungs- und Logistikzentrale betreffend, wo alle Geräte gebaut werden. Doch erst als die B&W Group, die inzwischen ihrerseits unter dem Dach von Sound United operiert, die internationalen Vertriebsaktivitäten außerhalb von Nordamerika übernahm, wurde die Marke wieder mehr sichtbar.

Die Produkte von Rotel waren indes immer grundsolide konzipierte Best-Buy-Kandidaten, und diesbezüglich ist alles beim Alten geblieben – mehr oder weniger. Tatsächlich gilt dies für einen Gutteil des aktuellen Portfolios uneingeschränkt, die jüngst präsentierten MKII-Versionen des Vollverstärkers A12 sowie der CD-Spieler CD14 und RCD-1572 eingeschlossen. Doch Ende 2019 traten darüber hinausreichende Ambitionen zutage, als Rotel die ersten »Michi«-Komponenten auf den Markt brachte: die Vorstufe P5, die Stereo-Endstufe S5 und die Mono-Blöcke M8, deren Ausgangsleistung der Hersteller mit sagenhaften 1.800 Watt an vier Ohm beziffert. Diese Amps passen offenkundig nicht in die Kategorie »Vernunftentscheidung«, mit der hinter ihrer Entwicklung stehenden Zielsetzung erfand sich Rotel scheinbar über Nacht in Teilen neu. Dabei ist die Michi-Serie an sich keineswegs ein Novum, schon 1993 reckte man sich vorsichtig aus den massentauglich gehaltenen Segmenten empor. Diesmal jedoch hat sich Rotel vollends freigestrampelt und die Bürde kalkulatorischer Zugeständnisse abgestreift. Klanglich sinnvoller Aufwand ist zwar nach wie vor die oberste Maßgabe, aber anlässlich des 60-jährigen Firmenjubiläums will man zeigen, was man kann.

»Michi« ist einer der japanischen Begriffe für »Weg« und eine klare Botschaft: Rotel beschreitet nun wieder den Weg des High End. Die 2020 vorgestellten Vollverstärker X3 und X5 komplettieren die exklusive Linie zumindest einstweilen, wobei der kleinere X3 ohne Phonostufe auftritt und weniger Leistung als das Flaggschiff bereitstellt. Mit seinen nominalen 350 Watt an vier Ohm lässt es sich freilich bestens leben, zumal die Herstellerangaben sehr konservativ gehalten sind, wie unsere technische Überprüfung des X5 zeigte: Mit 600 Watt pro Kanal an vier Ohm Last vom Hersteller angegeben, liefert er bei einem Prozent Klirr sensationelle 710 Watt im i-fidelity.net-Messlabor ab. Das Thema Leistungsbedarf von Lautsprechern hat sich damit schlicht erledigt. Nichtsdestotrotz verfügt der X5 über einen mit RCA-Buchsen ausgeführten Vorstufenausgang. Außerdem stellt er zwei Paar Lautsprecheranschlüsse bereit, sodass echtes Bi-Wiring möglich ist. Vor der Verkabelung muss dieser fast zwanzig Zentimeter hohe Bolide natürlich Platz auf einem geeigneten Möbel finden – und dorthin bewegt werden. Wegen seines Gewichts von 43 Kilogramm gerät selbst ein kurzer Transportweg ohne helfende Hände zu einem Kampf gegen die Schwerkraft, aber schon die imposante Erscheinung des X5 ist alle Mühe wert: Tiefschwarz, mit spiegelnder Glasfront, monolithisch wirkend steht er da. Erfreulicherweise ist Rotel dem Understatement treu geblieben und lässt das ausladende Gehäuse in seiner schlichten Eleganz für sich sprechen, der X5 residiert in meinem Rack. Die großen Kühlrippen sind seitlich als geschlossene Wangen ausgeführt, die an den Ecken abgerundet sind und so eine homogene Einheit mit dem Chassis bilden.